Während ich diese Zeilen schreibe, sitze ich im Flieger.
Das Flugzeug ist mit Abstand das sicherste Verkehrsmittel. Das Gefährlichste an einem Flug ist die Fahrt zum Flughafen. Sitzt man erstmal im Flieger, gibt es keinen rationalen Grund mehr, Angst zu haben.
Und trotzdem: Wer, so wie ich, nur selten fliegt – und sich deshalb nie richtig daran gewöhnen konnte –, der hat doch ein mulmiges Gefühl, wenn er nach unten blickt und realisiert, dass das eigene Leben in diesem Moment von der Zuverlässigkeit der Flugtechnik abhängig ist.
Wer in einem solchen Moment den eigenen Gedanken freien Lauf lässt, dem könnte ja durchaus ein Horrorszenario in den Sinn kommen. Wenn jetzt etwas passiert, könnte das meinen Tod bedeuten. Ich würde sterben.
Im Angesicht des (mehr oder weniger wahrscheinlichen) Todes blicken Menschen oft zurück und ziehen Bilanz: Hatte ich ein gutes Leben? Bereue ich etwas? Hätte ich meine Lebenszeit anders verbringen sollten? Kann ich mein Leben verschwenden? Hätte ich weniger Arbeiten sollen? Hätte ich im Leben etwas wagen sollen, anstatt immer nur auf Sicherheit zu setzen?
In diesen Momenten schauen wir zurück in unsere Vergangenheit, bewerten unseren bisherigen Lebensweg und sehen vor allem all das, was wir noch nicht erlebt haben: all die Reisen, die ich noch unternehmen wollte; all die Länder und Menschen, die ich noch kennenlernen wollte; all die Dinge im Leben, die ich gerne noch ausprobiert hätte; all die Menschen, mit denen ich viel zu wenig Zeit verbracht habe.
Und dann kommt die alles entscheidende Frage auf: Habe ich mein Leben verschwendet? Kann man sein Leben verschwenden?
Inmitten der Angst werden viele Menschen dann plötzlich religiös. Sie beten, dass sie diesen einen Flug noch überleben können, und bieten große Opfer im Gegenzug – als ob Gott oder Teufel ihre Entscheidungen in Abhängigkeit von der Vergütung treffen würden.
Andere machen sich selbst große Versprechen: Wenn ich hier noch einmal mit dem Leben davonkomme, dann werde ich alles anders machen. Anders leben. Anders meine Zeit verbringen. Dann werde ich all das nachholen, was ich bisher verpasst habe. Dann werde ich endlich so leben, als sei dies der letzte Tag in meinem Leben. Ich werde nicht mehr mein Leben verschwenden.
Das Bewusstsein des eigenen Todes verändert das Bewusstsein des eigenen Lebens. Wer seinen Tod vor sich sieht, der sieht auch sein Leben anders. Oft mit äußerst positiver Wirkung: man bringt dem eigenen Leben auf einmal eine Wertschätzung entgegen, die im Alltag oft fehlt. Und man will die wenige Zeit, die einem bleibt, für Wichtigeres nutzen, intensive Erfahrungen und Erlebnisse machen.
Wenn das Bewusstsein des eigenen Todes aber eine so immense therapeutische Wirkung hat, warum wird diese Methode nicht auch gezielt eingesetzt? Grundsätzlich hätte sie eine gute Wirkung auf alle Menschen. Aber besonders für psychisch erkrankte Menschen könnte sie ein Wundermittel sein. Depressive Erkrankungen können es z.B. mit sich bringen, dass ein Erkrankter das eigene Leben nicht mehr wertschätzen und bejahen kann.
Die Behandlung einer depressiven Erkrankung umfasst meistens eine spezielle Form der Psychotherapie und manchmal auch spezielle Psychopharmaka („Antidepressiva“). Psychotherapien stellen mit die beste Behandlungsform für dar, aber sie können mitunter langwierig sein (25, 50 oder mehr als 100 Stunden). Und Psychopharmaka haben in vielen Fällen unangenehme Nebenwirkungen. In schwersten Fällen der Depression kommt auch heute noch die EKT (Elektrokrampftherapie) zum Einsatz, bei der bei einem Patienten unter Narkose mit elektrischem Strom ein kontrollierter Krampfanfall ausgelöst wird; und auch wenn die EKT besser zu sein scheint, als ihr Ruf, so wirkt es doch wie eine Art Bankrotterklärung von Medizin und Psychologie, wenn es zu einer solchen Therapie keine Alternative mehr gibt. Ist das schon alles, was Psychotherapeuten und Psychiaterinnen einfällt?
Nein. Der Psychiater Dr. Igor ist z.B. ein innovativer, kluger Kopf. Er ist Leiter der „Irrenanstalt“ Villete in Slowenien, und er arbeitet an neuen, experimentellen Methoden. Und auch Veronika gehört zu seinen Patientinnen. Beide sind Romanfiguren in Paulo Coelhos Buch „Veronika beschließt zu sterben“.
Coelho, der sich mit Bestsellern wie „Der Alchimist“ den Ruf eines Trivialautoren eingehandelt hat – und das durchaus zurecht, den der „Alchimist“ ist eine mittelgroße Katastrophe –, zeigt sich im Falle von „Veronika“ von seiner guten Seite, überzeugt in großen Teilen und demonstriert Witz und Einfallsreichtum.
Lapidar eröffnet Coelho seine Erzählung mit dem Satz: „Am 11. November 1997 entschied Veronika, jetzt sei es – endlich – an der Zeit, sich das Leben zu nehmen.“ Für diese Entscheidung nennt Coelho in aller Kürze zwei Gründe: Erstens verlief Veronikas Leben gleichförmig, und wenn ihr Jugend einmal vorbei ist, würde nur noch das Altern und noch mehr Leiden auf sie warten. Zweitens wusste Veronika, was in der Welt geschah; dass nichts so war, wie es sein sollte; und sie selbst konnte nichts dagegen tun.
Veronika beschließt zu sterben – und nimmt eine Überdosis Tabletten. Einige Zeit später wacht sie auf und merkt, dass ihr Versuch gescheitert ist – und dass man sie nach Villete gebracht hat, eine berühmte Irrenanstalt in Sloweniens Hauptstadt Ljubljana. Dort gibt es für Veronika zwei Nachrichten: Sie hat ihren Selbstmordversuch überlebt. Und ihr Herz wurde dabei irreparabel geschädigt. Sie hat noch 1 Woche zu leben. Dann wird ihr Herz aufhören zu schlagen und sie wird ihr ursprüngliches Ziel nun doch noch erreichen: den eigenen Tod.
Coelhos Erzählung erörtert viele Fragen („Was genau heißt es, verrückt zu sein?“) und individuelle Lebensgeschichten (Zedka, Mari, Eduard). Ich möchte hier aber keine Inhaltsangabe schreiben. Mich interessiert speziell ein Gedanke – wahrscheinlich der wichtigste Gedanke des Romans, die Leitidee, die Crux, die „Moral von der Geschicht“.
Dafür sind vor allem zwei Sachverhalte wichtig: Veronikas Lebensenttäuschung und Todeswunsch, und Dr. Igors neuartige und noch nicht erprobte Behandlungsmethode für Veronika.
Veronikas Leben ist bisher geprägt von Angepasstheit und Routinen. Immer dasselbe, das Gewohnte, gut dosiert. Diese Eintönigkeit hat ihre Lebenslust vergehen lassen. In Villete, wo sie „im Warteraum des Todes“ (75) nur noch 1 Woche zu leben hat, beginnt sich ihr Leben langsam zu verändern:
„… jetzt fühlte sie etwas, was sie bisher nie zugelassen hatte: Haß. … Sie ließ das Gefühl zu, ohne sich darum zu scheren, ob es gut war oder nicht. Sie hatte genug von Selbstbeherrschung, Masken, angepaßtem Verhalten. Veronika wollte sich in den letzten zwei oder drei Tagen ihres Lebens endlich einmal gehenlassen.
Sie hatte einem älteren Mann eine Ohrfeige verpaßt, sich mit dem Krankenpfleger angelegt, war bewußt nicht nett gewesen und hatte nicht mit den anderen geredet, als sie allein sein wollte, und nun konnte sie sogar hassen…
Veronika haßte alles, doch vor allem haßte sie die Art, wie sie ihr Leben geführt hatte, ohne je all die Hunderte von anderen Veronikas zu entdecken, die in ihr lebten und die interessant, verrückt, neugierig, mutig und risikofreudig waren.“ (75-76)
In dieser Entwicklung erzählt uns Coelho nun immer mehr persönliche Details zu Veronika. „Veronika wußte von Kindesbeinen an, was ihre wahre Berufung war: Pianistin sein!“ Doch auf den Hinweis ihrer Mutter, niemand könne vom Klavierspielen leben, und ihrem anschließenden Rat, die Tochter solle doch Rechtsanwältin werden, da dies ein Beruf mit Zukunft sei, beendet Veronika die Schule, besucht die Universität, erhält ein Diplom mit ausgezeichneten Noten und doch „nur eine Anstellung als Bibliothekarin.“ (103)
In Villete geht Veronika nun dieser Berufung nach und spielt Klavier. Sie kümmert sich nicht mehr darum, was andere hören oder denken: „In ihren letzten Lebenstagen machte sie ihren Traum wahr: dann mit Herz und Seele spielen, wann sie es wollte und so lange sie wollte.“
Besonders ein Patient findet am Klavierspiel Veronikas großes Interesse: der schizophrene Eduard. Er scheint in seiner eigenen Welt zu leben und reagiert nicht immer auf seine Umgebung und Mitmenschen. Auch wenn Veronika auf der persönlichen Ebene mit Eduard nicht ins (verbale) Gespräch kommt, spürt sie ganz deutlich, dass ihr Klavierspiel ihn bewegt. Er möchte, dass sie die ganze Zeit spielt.
Doch für Veronika geht es um mehr als nur Klavierspielen. Sie möchte nun alles nachholen, was sie in ihrem Leben bisher versäumt hat. Auch sexuell. Und so entkleidet sich Veronika am Klavier und nähert sich Eduard, der sich höflich entzieht. Er möchte sie nur Klavierspielen hören. Irritiert durch Eduards Reaktion denkt Veronika darüber nach, sich zurückzuziehen, doch nun kommt ihr der Gedanke, „daß sie nichts zu verlieren hatte. Sie war tot, warum sollte sie weiter Ängste und Vorurteile hegen, mit denen ihr Leben immer eingegrenzt worden war?“
Veronika zieht sich also vollständig aus. Eduard lacht. Doch anstatt sich davon irritieren zu lassen, erregt sie nun der Gedanke, „daß sie machen konnte, was sie wollte, daß es keine Grenzen gab“ (141). Veronika beginnt, sich lustvoll dem Moment hinzugeben, masturbiert, sagt undenkbare Dinge, kommt wieder und wieder zum Orgasmus, gleitet schließlich schweißgebadet auf den Boden und bleibt friedlich liegen.
„Sie hatte ihre innersten Wünsche vor sich verborgen, ohne zu wissen, wieso. Und sie brauchte keine Antwort. Es reichte, daß sie getan hatte, was sie tat: sich hinzugeben. … Obwohl sie viele Männer gehabt hatte, hatte sie ihre geheimsten Wünsche nie ausgelegt – mit dem Ergebnis, daß ihr ein Großteil ihrer selbst verborgen geblieben war.“ (143-144)
Anschließend bittet Veronika ihren Psychiater Dr. Igor um zwei Dinge: Er solle ihr eine Spritze geben, damit sie die letzten Stunden ihres Lebens wach bleibe; und sie möchte Villete verlassen und draußen sterben.
Währenddessen kommt der schizophrene Eduard immer mehr mit der gemeinsamen Welt in Kontakt, was auch einen verbalen Austausch zwischen Veronika und ihm ermöglicht. Die beiden beschließen, zusammen aus Villete zu fliehen, essen im teuersten Restaurant der Hauptstadt, betrinken sich, wandern zu einer kleinen Burg und übernachten im Freien. Als sie am nächsten Morgen aufwachen, ist Eduard überrascht, dass Veronika noch am Leben ist.
„ ‚Was ist geschehen?‘ fragte Veronika. ‚Nichts‘ antwortete Eduard… ‚Oder besser gesagt: ein Wunder: noch ein Tag, an dem du lebst.‘ “
Parallel zu Veronikas Geschichte gewährt Coelho dem Leser immer wieder Einblicke in die Gedanken und Absichten von Dr. Igor. Nach und nach erfährt der Leser mehr Details über die Behandlungsstrategie, die Dr. Igor in Veronikas Fall verfolgt. Es ist eine neue, experimentelle Methode, und man darf zurecht behaupten, dass Veronika eine Art Versuchskaninchen für ihn ist. Die Gedanken dazu reiften bei Dr. Igor, als Veronika unmittelbar nach ihrem Selbstmordversuch fast eine Woche mit dem Tod kämpfte. Die Schlaftabletten hatten sie zumindest ins Koma und an den Rand des Lebens gebracht, aber schließlich wurde klar, dass sie überleben würde. Diese Situation war perfekt für Dr. Igors gewagtes Experiment. Er wollte ein neues Medikament für ihr Leiden ausprobieren. Er wusste, dass er damit ein gewisses Risiko einging.
Das Medikament nannte Dr. Igor „Das Bewusstsein des Todes“. Genau dieses Mittel hatte er eingesetzt, um Veronika von ihrem Leiden zu befreien. Er hatte ihr ganz bewusst eine Lüge aufgetischt, indem er sie im Glauben gelassen hatte, dass die Tablettenüberdosis Veronikas Herz unwiderruflich geschädigt hatte und sie nur noch 7 Tage zu leben hätte.
In Wahrheit war es ganz anders: Veronikas Herz war völlig in Ordnung. Ihr stand auch nach ihrem Selbstmordversuch noch ein gesundes und langes Leben bevor, wenn sie sich denn dafür entscheiden sollte, es auch zu leben. Aber Dr. Igor wusste nur zu gut, dass Menschen wie Veronika, die bereits einen Selbstmordversuch hinter sich hatten, bald schon einen neuen unternehmen würden. Darin kann man eine gewisse Rechtfertigung für diese experimentelle Lüge sehen.
Dr. Igor hatte damit eine Dynamik angestoßen, die ohne diese Lüge nicht möglich gewesen wäre. Er hatte Veronika in eine Lage gebracht, in der sie nur noch wenige Tage zu leben hatte – egal, was sie tat. Genau dadurch – und das ist wohl der Kern dieses Medikaments – hatte sie auch nicht mehr viel zu verlieren.
Wer nur noch 5 Tage zu leben hat, macht sich nicht mehr viel aus dem, was andere Menschen über ihn denken. Dem werden viele Ängste egal, die Menschen normalerweise davon abhalten, etwas zu tun. Der fragt sich nicht mehr, ob er sich mit irgendwas bloßstellen oder blamieren könnte. Warum? Weil ein Mensch dann nicht mehr zu verlieren hat. Er hat keinen Grund mehr, sich allzu viele Zukunftssorgen zu machen. Und dadurch entsteht Mut, das zu tun, was man wirklich tun möchte.
Die Dynamik, die dieser Umstand bei Veronika entfaltet, ist die Geschichte, die Coelho uns erzählt. Zu Beginn zeigt sie kaum Emotionen, ist von der Welt gelangweilt und lebt tagein tagaus dieselben Routinen. Ihr Leben ist sicher und berechenbar. Ihre Gefühle sind kontrolliert und nie zu intensiv.
In Villete bekommt lässt sie ihren Emotionen dann freien Lauf – weil sie nichts mehr zu verlieren hat. Sie empfindet das erste Mal seit Langem richtige Wut und lebt sie aus. Dieser Prozess hat etwas Reinigendes für sie. Sie kümmert sich nicht mehr darum, wie andere sie sehen oder was andere über sie denken. Dies spitzt sich schließlich zu in der Szene mit dem Schizophrenen Eduard, der ihr zunächst beim Klavierspielen zuhört, bevor sich Veronika von ihrer Lust mitreißen lässt und all ihre unterdrückten Phantasien auslebt und nachholt. Während sie sich in dieser Ekstase verliert, steht Eduard vor ihr und sieht ihr zu, und der Leser bleibt im Unklaren, wie viel dieses Geschehens der Schizophrene tatsächlich wahrgenommen hat. Jedenfalls ist es Veronika nicht peinlich, selbst dann nicht, als sie bemerkt, dass mit Mari noch eine weitere Person im Raum war.
Sie hat etwas riskiert. Sie hat ihr Leben – zumindest in diesen Momenten – intensiver gelebt und erlebt. Im Angesicht des Todes wird ihr Leben wieder lebenswert.
Veronikas Geschichte entfaltet im Verlauf des Romans eine unglaubliche Strahlkraft, die weit über ihr persönliches Leben hinausgeht: „Die Anwesenheit des Mädchens hatte viele Leute betroffen gemacht und einige fingen schon an, ihr Leben zu überdenken. … Einige fragten sich: ‚Und wenn das nun mir passieren würde? Ich kann leben, aber nutze ich diese Chance überhaupt?‘ “ (121)
Und bei Mari, der engsten Vertrauten von Eduard, führen diese Fragen zur Entscheidung, ein neues Leben zu beginnen: „Ich möchte noch einmal anfangen zu leben, Eduard. Möchte die Fehler begehen, die ich immer schon machen wollte, aber aus Feigheit nie begangen habe. Mich der Panik stellen, die wiederkommen kann, doch mich nur müde macht, denn ich werde iretwegen weder sterben noch das Bewußtsein verlieren, das weiß ich genau. Ich kann neue Freunde finden und ihnen beibringen, verrückt zu sein, damit sie weise werden. Ich werde ihnen sagen, daß sie nicht die Anstandsregeln befolgen, sondern ihr eigenes Leben, Wünsche, Abenteuer entdecken und leben sollen!“ (Mari zu Eduard) (163)
Es ist nicht schwer zu erkennen, welchen Gedanken Coelho bei seinen Lesern anregen möchte – sind doch auch sie in gewisser Weise Besucher in Villete. Auch ohne diesen Hinweis wäre es ja fast unmöglich, sich beim Lesen nicht auch einmal zu fragen: „Lebe ich mein Leben eigentlich so, wie ich leben würde, wenn ich nur noch wenige Tage zu leben hätte? Ist mein Leben lebenswert? Gehe ich Risiken ein? Würde ich etwas bereuen, wenn ich heute über mein zeitnahes Ableben informiert würde?“
Das Problem dabei ist nur: Wer sich – so wie ich z.B. – schon länger mit dem guten Leben beschäftigt, der hat sich solche Fragen schon oft gestellt. Aber ihre Wirkung ist letztlich nicht mit Veronikas Medikament zu vergleichen, weil es eine hypothetische Frage bleibt, deren Realität wir im Kopf simulieren müssen. In Veronikas Situation kann man sich nur bedingt gut eindenken; sie wird für mich selbst immer eine fiktive Situation bleiben, weil ich weiß oder zu wissen glaube, dass ich noch sehr viel länger zu leben habe.
Und dadurch verliert die Simulation an Wirkung, die Antworten bleiben abstrakt und lebensfern, und ich werde keine Schlussfolgerungen für mein Leben daraus ableiten; und wenn ich sie doch mal ableite, werde ich sie nicht umsetzen – denn ich habe ja noch so viele Jahre, da muss ich den Fallschirmsprung oder die Weltreise ja nicht unbedingt heute schon angehen.
Was Coelho also gelingt, ist die realitätsnahe Simulation, indem er uns im Wissen lässt, das sei tatsächlich Veronikas Schicksal – und erst zum Ende des Romans auflöst, dass alles nur ein erfolgreiches Experiment von Dr. Igor war. Damit kommt Coelho auf literarische Weise in einen Wirkungsbereich, der wohl nur noch von der Realität selbst übertroffen werden könnte. „Veronika beschließt zu sterben“ wirft die große Frage auf, ob wir alle Fehler im Leben selbst machen müssen – oder aus den Fehlern anderer Menschen lernen können.