Wer die eigene Menschenkenntnis verbessern will, für den ist guter Rat teuer. Es gibt eine Unzahl von Persönlichkeitsmodellen und Persönlichkeitstests – und fast keine davon halten wissenschaftlichen Standards stand. Das liegt oft daran, dass die Typologie einfach zu undifferenziert ist.
Die beste Strategie für mehr Menschenkenntnis ist Empathie: Sich in den anderen hineinversetzen, aber auch so denken, fühlen und handeln wie er – d.h. auch seine Werte, Ziele und Bedürfnisse nachempfinden.
Das wiederum kann man über zwei grundverschiedene Zugänge bewerkstelligen: Über die individuellen Ziele eines Menschen, oder über die allgemeinen Grundbedürfnisse eines jeden Menschen.
Gute Menschenkenntnis: Verhalten verstehen, Verhalten voraussagen
Das Ziel von Menschenkenntnis ist in der Regel das Verstehen und Vorausberechnen des Verhaltens anderer Menschen. Wenn wir das Verhalten eines anderen Menschen verstehen, dann ergibt es für uns einen Sinn, es ist nachvollziehbar, alles passt zusammen. Aber das Verstehen-wollen ist oft nur eine Vorstufe für das eigentliche Ziel, nämlich das zukünftige Verhalten eines Menschen vorausahnen zu können. Wie wird Person A auf die Situation B reagieren? Wer so etwas einschätzen kann, der hat eine gute Menschenkenntnis.
Ziele & Wege (individuell)
Die Formel, die hinter diesem Ansatz steht, scheint zunächst einmal sehr einfach zu sein:
Soll heißen: Was eine Person tut, ist das Ergebnis aus ihren Zielen (Motiven, Absichten) und den gewählten Zielrealisierungsstrategien (das sind die „Wege“ zum Ziel). Man könnte auch sagen:
Der Zweck ist entsprechend das, worauf die Handlung abzielt; das, was die Person mit der Handlung erreichen möchte. Und das Mittel ist ihre beste Idee, wie man diesen Zweck realisieren kann. Der Zweck ist das Wohin der Handlung, das Mittel das Wie der Umsetzung.
Ziele und Wege unterscheiden Menschen
Auch wenn dieser Ansatz also erstmal sehr einfach aussehen mag, ist man dann doch schnell wieder auf dem Boden der Tatsachen angekommen, wenn man sich klarmacht, dass unsere Ziele sehr individuell sind. Das, was ich erreichen möchte, ist nicht zwingend das, worauf du abzielst. Die eine möchte ihr Abi machen, der andere Profifußballer werden, und wiederum eine andere möchte eine Familie gründen.
Noch schwieriger wird es, wenn man sich die Wege anschaut. Denn selbst wenn zwei Menschen dasselbe Ziel anstreben – z.B. „mehr Selbstsicherheit haben“ –, so gibt es unzählige mögliche Strategien, dieses Ziel zu erreichen. Und man sieht auch auf den ersten Blick, dass Menschen hier ganz unterschiedliche Wege zum Ziel wählen:
Welche Strategie ein Mensch zur Realisierung eines Ziels wählt, hängt natürlich von seinen Überzeugungen ab: Was glaubt die Person selbst, welche Strategie am effektivsten ist? Und welche Strategie ist auch mit den eigenen Werten und sozialen Normen vereinbar? Nicht zuletzt speist sich das Wissen, welche Strategie die richtige ist, aus Erfahrung – d.h. aus eigener Lebenserfahrung und aus der Lebenserfahrung von nahen Bezugspersonen („Wie macht Papa das“?).
Ich muss also schon einiges über einen Menschen wissen, bevor ich meine Menschenkenntnis einsetzen kann: Wenn ich das Verhalten nur durch die Kombination von Zielen und Wegen voraussagen kann, dann ist es unabdinglich, genau darüber Bescheid zu wissen:
Was will jemand mit seinem Verhalten erreichen?
Und welche Strategie wählt er dazu?
Gerade bei fremden Menschen kann man das oft nur abschätzen. Umso besser eignet sich diese Strategie für Bekannte, Freunde & Familienmitglieder. Je weniger ich aber über die andere Person weiß, desto sinnvoller ist die Alternative in Sachen Menschenkenntnis: Der Ausgang von den allgemeinen menschlichen Grundbedürfnissen. Denn diese sind keineswegs individuell – sondern bei allen Menschen gleich.
Allgemeine menschliche Grundbedürfnisse
Wer also den Zugangsweg über die menschlichen Grundbedürfnisse wählt, der muss nichts über die individuellen Ziele und individuellen Realisierungsstrategien eines Menschen wissen. Das ist besonders dann der bessere Zugangsweg, wenn ich nichts oder nicht viel über eine Person weiß.
Über die Frage, wie viele Grundbedürfnisse der Mensch hat, und wie sie konkret lauten, ist schon viel geschrieben worden. Das Modell, dem in der zeitgenössischen psychologischen Forschung wohl den Platz Nummer 1 belegt, stammt von Klaus Grawe. Für ihn gibt es vier menschliche Grundbedürfnisse, die so elementar sind, dass eine systematische Nichtbefriedigung eines oder mehrere Grundbedürfnisse bei einem Menschen zu schwerwiegenden psychischen Erkrankungen führt.
Grundbedürfnis „Bindung“
Das Grundbedürfnis nach Bindung ist uns unter anderen Begriffen bestens bekannt: Es ist der Wunsch nach Zuwendung, nach Aufmerksamkeit, nach Anerkennung. Es ist unsere Sehnsucht nach Liebe und Freundschaft, nach Familie und Zugehörigkeit.
Grundbedürfnis „Orientierung & Kontrolle“
Hier geht es um das Grundbedürfnis, die Welt um mich herum zu verstehen und damit eine Einsicht zu erhalten, warum die Dinge so laufen, wie sie laufen. Aus diesem Verständnis erwächst oft auch eine Kontrolle über die Welt und mein Leben. Der Versuch, die eigene Menschenkenntnis zu verbessern, könnte durchaus nur eine Strategie sein, das eigene Grundbedürfnis nach Verstehbarkeit und Kontrollierbarkeit anderer Menschen zu befriedigen.
Grundbedürfnis „Lust & Unlust“
Das ist das so genannte „Pain and Pleasure“-Prinzip. Menschen wollen tunlichst Schmerzen und Leiden (auch „Unlust“ genannt) minimieren. Gleichzeitig wollen sie ihre Freude und ihren Genuss maximieren (auch „Lust“ genannt). Vieles von dem, was Menschen in ihrem Leben tun, ist lediglich der Versuch, das eigene Leiden möglichst gering zu halten und gute Gefühle möglichst oft und intensiv zu erleben.
Grundbedürfnis „Selbstwert“
Das ist ein Grundbedürfnis, das man schnell mal übersehen kann. Selbstwert ist in seiner Bedeutung für einen Menschen kaum zu unterschätzen. Dieses Grundbedürfnis ist so grundlegend, dass manche Menschen bereit sind, für dessen Befriedigung anderen Menschen Leid anzutun. Man kann seinen Selbstwert erhöhen, indem man aus sich heraus etwas Gutes tut. Oder man kann den eigenen Selbstwert erhöhen, indem man andere klein macht und sich dann mit ihnen vergleicht. Und neben jemandem, den ich gerade unangespitzt in den Boden gehauen habe, wirkt selbst der kleinste Zwerg wie ein Riese. Die Abwertung anderer Menschen ist leider eine der häufigsten Realisierungsstrategien für dieses Grundbedürfnis.
Aus meiner eigenen Praxis: Pragmatische Namen
Ich habe für meine eigene Lebenspraxis diese Grundbedürfnisse etwas anders sortiert und benannt. Das ist in wissenschaftlicher Hinsicht nicht so clever, hilft mir aber für die Umsetzung im Alltag, weil ich dann schneller verstehe, worum es geht. So nenne ich die Grundbedürfnisse für mich, um sie handhabbarer zu machen:
Bedürfnisse sind allgemein – Realisierungsstrategien hingegen individuell
Wie genau Menschen diese vier Grundbedürfnisse zu befriedigen versuchen, ist wiederum individuell. Aber diese individuellen Strategien lassen sich auf einmal verstehen, wenn man sie auf dieses Bedürfnis zurückbezieht.
So funktioniert Menschenkenntnis: Ein Beispiel
Johannes kommt immer wieder zu spät zur Arbeit. Außerdem begeht er wiederholt wichtige Fehler, die ihm eigentlich nicht unterlaufen dürften und die der Firma Schaden zufügen. Warum passiert das? Diese Frage muss mit Menschenkenntnis ja eigentlich zu beantworten sein.
Und die Antwort hängt natürlich etwas von der individuellen Lebensgeschichte und dem Kontext ab, aber in der Situation oben würden vielleicht viele erstmal an so etwas wie Unzuverlässigkeit, Faulheit oder mangelnde Disziplin denken.
Wer hingegen genau hinsieht, der macht eine merkwürdige Beobachtung: Wie immer wird Johannes nach einer Verfehlung ins Büro der Chefin zitiert. Dort holt er sich eine lautstarke Abfuhr und Zurechtweisung ab. Eigentlich eine sehr unangenehme Sache, die jeder vermeiden möchte. Und doch sieht man in seinem Gesicht danach neben Schuld und Scham auch eine gewisse Befriedigung. Wie kann das sein?
Offenbar hat die Abfuhr ein Grundbedürfnis befriedigt. Johannes ist in seiner Kindheit von seinen Eltern kaum beachtet worden. Beide Elternteile waren Karrieremenschen und kaum zu Hause. Auch abends hat Johannes nicht die Aufmerksamkeit seiner Eltern erhalten – denn diese haben auch zu Hause ständig gearbeitet. Nur als er versehentlich mal einen Teller in der Küche hat runterfallen lassen, da haben Mama und Papa ihre Arbeit einfach liegenlassen, sind zu ihm in die Küche geeilt und haben ihn einmal kräftig zusammengeschrien, dass er doch besser aufpassen solle.
Und da hat Johannes gespürt, dass negative Aufmerksamkeit für ein Kind immer noch besser ist als gar keine Aufmerksamkeit. Und weil er schon alles versucht hatte und der Teller das einzige war, das ihm geholfen hatte, verursacht er nun lauter Probleme. Und jedes Mal bekommt er dafür die negative Zuwendung seiner Eltern. Dieses Verhalten hat er verinnerlich, ohne dass ihm das so richtig bewusst ist. Und dieses Verhalten reproduziert er jetzt unabsichtlich auf der Arbeit: Er „vergisst“, sich den Wecker zu stellen; er schiebt seine Arbeit so lange auf, dass die Zeit am Ende nicht mehr ausreicht, alle Fehler vorher zu korrigieren – und bekommt dafür jedes Mal die negative Zuwendung seiner Chefin.
Zugegeben: Dieses Beispiel klingt so richtig schön nach „psychologischem Lehrbuch“. Aber so überzeichnet diese Geschichte sein mag – unrealistisch ist sie nicht. Entscheidend aber ist vor allem, dass das Verhalten von Johannes erst ab dem Punkt wirklich einen Sinn ergeben hat, als wir es auf ein Bedürfnis zurückgeführt haben. Erst mit der Hypothese, dass es hier um den Versuch geht, das eigene Bindungsbedürfnis zu befriedigen, wurde das Verhalten klarer.
Interessant ist hier nun, dass man nun auch sofort Möglichkeiten hätte, das Verhalten von Johannes zu beeinflussen: Versucht man es mit Bestrafung, Sanktionierung und Disziplinierung wird man keinen Erfolg haben. Aber wenn man Johannes ganz subtil einen anderen Weg anbietet, sein Grundbedürfnis nach Bindung zu befriedigen, dann ist er nicht mehr auf das andere Verhalten angewiesen – und muss es daher auch nicht mehr wiederholen. Auch hier: So „lehrbuchmäßig“ ist es im wahren Leben nicht immer, aber das Prinzip ist doch jedes Mal dasselbe:
Welches Bedürfnis versucht die Person mit diesem Verhalten zu befriedigen?
Und wie könnte ich dafür sorgen, dass die Person bekommt, was sie will, ohne dass sie dafür auf dieses Verhalten zurückgreifen muss? (Alternative Wege)
E-Book Empathie