Selbsterfahrung klingt nach Esoterik. Ich habe dabei einen Raum vor Augen, in dem Hippies im Yoga-Sitz irgendeine Zeremonie mit Räucherstäbchen abhalten. Mir geht es aber um einen anderen Zugang zu diesem Thema – für mich ist Selbsterfahrung eine Methode, mit der wir zu den unbewussten Anteilen unseres eigenen „Ichs“ durchdringen können, die im Alltag oft verdeckt bleiben. Dabei geht es um einen ganz unspektakulären, pragmatischen Zugang, den jeder selbst zu Hause ausprobieren kann. Auch ohne Wochenend-Seminare.
Selbsterfahrung ist ein äußerst praktikabler Informationsgenerator, der dich über dich selbst aufklärt. Das hilft zur Beantwortung der Frage „Wer bin ich?“. Dazu kannst du dir z.B. dein „Innenleben“ visuell repräsentieren – etwa durch das „innere Team“ von Friedemann Schulz von Thun.
Du kennst dich selbst nicht wirklich gut: Das, was dir ohne solche Übungen von dir selbst bewusst ist, macht nur die Spitze des Eisbergs aus. Den Großteil siehst du erst dann, wenn du unter die (Wasser-)Oberfläche schaust.
Im Alltag verdrängst du aber viele Aspekte deiner Persönlichkeit und deines Verhaltens, damit nicht allzu viele ungute Gefühle entstehen, z.B. weil es eine klaffende Lücke zwischen deinen Handlungen und deinem Selbstbild gibt.
Nur die Spitze des Eisbergs – Warum du dich nicht gut kennst
Das Konzept, das hinter dieser Metapher steckt, kommt aus der Psychoanalyse und besagt, dass das, was unbewusst ist, nur ein kleiner Teil von dem ist, was dein Denken und Handeln steuert und somit dein gesamtes Verhalten lenkt. Wenn du dich also in Selbsterfahrung üben möchtest, musst du wissen, dass es diesen Teil gibt.
Mit dem Eisberg ist das so: Wenn man einen Eisberg auf dem Meer treiben sieht, könnte man meinen, dass er vor allem aus dem besteht, was da auf dem Meer schwimmt. Der größte Teil des Eisbergs (fast 90%) ist aber unter Wasser und auf den ersten Blick unsichtbar. Dieser Teil ist der „eigentliche“ Eisberg: Er hat viel mehr Auswirkungen auf das Verhaltens des Eisbergs als die Spitze, die man an der Oberfläche sieht.
Mit deiner Persönlichkeit ist es genauso: Das, was dich ausmacht und dein Verhalten steuert, ist nicht der glanzvolle Teil über der Oberfläche – es ist der dunkle, tiefergehende Teil, den du nur siehst, wenn du aktiv, z.B. im Rahmen einer Selbsterfahrung, danach suchst. Im Alltag hältst du allerdings den bewussten Teil deines Selbst für das eigentliche Selbst: Du glaubst, dass du so bist, wie du dich siehst. Das stimmt so aber nicht: Du wärst gerne so, wie du dich normalerweise siehst. Was über dein Glück, deine Beziehungen, dein Verhalten und deine Motivation maßgeblich entscheidet – bleibt im Verborgenen, wenn du nicht danach suchst.
Das Unbewusste hat seinen Grund
Das ist erstmal nicht weiter schlimm. Er ist völlig normal und für das Funktionieren deines Gehirns notwendig. Dein Gehirn ist dafür gemacht, nicht alles ins Bewusstsein durchzulassen, damit du mit allen Eindrücken und Informationen nicht völlig überfordert bist. Stellt dir nur mal vor, du würdest jeden physikalischen Lichtstrahl, der dein Auge trifft, ganz bewusst und deutlich wahrnehmen: Du kämst zu nichts mehr! Deshalb ist es eine wichtige Funktion deines Gehirns, alle äußeren und auch alle inneren Eindrücke und Erlebnisse zu selektieren und einen Großteil davon zu filtern.
Andererseits gibt es auch Dinge, die du filtern musst, damit es dir nicht schlecht geht. Manchmal gibt es in dem Leben von Menschen Widersprüche, die sie anders gar nicht aushalten würden: Wenn man beispielsweise mit einem Menschen zusammenlebt, den man eigentlich gar nicht mag; wenn man einer Arbeit nachgeht, die man eigentlich zu tiefst verabscheut; oder wenn man Schwächen und Laster hat, die nicht zu einem geschönten Selbstbild passen. Alles, was dein tadelloses Selbstbild bedrohen könnte, wird aus diesem Grund systematisch ausgeblendet, damit es dir weiterhin gut geht.
Wenn du dich also wirklich um eine lückenlose Selbsterfahrung bemühen willst, kommst du nicht umhin, mit den Teilen von dir in Kontakt zu treten, die du im Normalfall nicht bewusst erfährst, die aber für einen objektiven und ungeschönten Gesamteindruck von dir selbst wichtig sind. Da dazu eignet sich insbesondere das „innere Team“.
Das innere Team – Eine Landkarte deiner unbewussten Anteile
Die Selbsterfahrungs-Methode des „inneren Teams“ wurde von Friedemann Schulz von Thun entwickelt. Von ihm kennst du vielleicht das etwas bekanntere Modell der „vier Seiten der Kommunikation“. Das „innere Team“ wurde damals vor allem für Coaching und Kommunikationstraining in Unternehmen entwickelt. Führungskräfte sollten analog zu dem Team, das sie leiten, ein „inneres Team“ aufbauen, für das dieselbe Regel gilt wie für Teams in Unternehmen: Konflikte behindern die Arbeitsweise und beeinträchtigen das Arbeitsergebnis.
Diese Methode ist jedoch nicht nur für Führungskräfte von Bedeutung. Ganz im Gegenteil ist sie eine sehr wirkungsvolle und brauchbare Methode, um die verschiedenen Anteile im unbewussten Teil deines eigenen Selbst durch eine erweiterte Art der Selbsterfahrung zu entdecken.
Du kannst dich deinen Werten aber auch mit einem künstlichen Rückblick auf dein Leben nähern. Stellt dir vor, du blickst am Ende deines Lebens zurück: Welches Leben möchtest du dann geführt haben? Worauf wirst du stolz sein? Was wirst du bereuen? Diese Fragen sind ein Lackmus-Test für deine Selbstfindung: Was hier deutlich sichtbar wird, sind die Dinge, die dir wichtig sind. Wenn du diese Dinge tust, bist du darauf stolz. Vernachlässigst du sie, wirst du es bereuen.
Du kannst die Frage nach der Lebensaufgabe und den Rückblick auf das eigene Leben auch zusammenführen: Wie sieht dein ideales Selbst aus? Wann wärst du die beste Version von dir? Wer ist dieser Mensch, der du sein möchtest; der mit dem Rückblick auf sein Leben zufrieden ist, weil er seine eigene Lebensaufgabe oder Mission zu 100% erfüllt hat?
Wozu dient dein inneres Team – und warum hast du es bisher noch nicht bemerkt?
Das Prinzip des inneren Teams liegt darin, innere Anteile zu personifizieren und diese Personen dann näher kennenzulernen: Wie ist diese Person drauf? Was ist ihre Anliegen? Was ist ihr wichtig? Welche Erfahrungen haben sie nachhaltig geprägt? Das heißt nicht, dass diese Anteile wirkliche Personen sind – es ist lediglich eine gute Repräsentationsform, so wie z.B. der sprichwörtliche „innere Schweinehund“, die eigenen „Dämonen“, das „trotzige Kind“ oder der „innere Richter“. Solche Personifizierungen helfen, eine abstrakte Sache konkret zu machen und mehr über sie zu erfahren. Denn Personen können kommunizieren – und du kannst sie ausfragen!
Dahinter steckt die Erkenntnis aus Psychologie und Psychoanalyse, dass es unter den unbewussten Anteilen deiner Persönlichkeit oft schutzbedürftige Interessen gibt, die zu Konflikten oder selbstzerstörerischem Verhalten führen können. Wenn zum Beispiel ein Mensch in seiner Kindheit gelernt hat, dass Beziehungen etwas sind, das mit Leiden und Schmerzen verbunden ist – z.B. weil seine oder ihre Eltern sich getrennt haben –, dann kann er oder sie zu der unbewussten Überzeugung gelangen, dass Beziehungen grundsätzlich etwas Schlechtes sind.
Eine solche Überzeugung wird in der Zukunft verhindern, dass der erwachsene Mensch überhaupt Beziehungen eingehen wird. Am effektivsten ist dieser Mechanismus zur Verhinderung von Beziehungen, wenn er unbewusst abläuft. Deshalb können sich Menschen mit einem solchen oder ähnlichen Hintergrund oft gar nicht erklären, warum ihre Beziehungen permanent scheitern. Der dahinter liegende Mechanismus zur Verdrängung wird für das Bewusstsein nicht sichtbar, da er sonst gar nicht so reibungslos funktionieren könnte.
Drei Wege zum inneren Team
Durch das „innere Team“ kannst du jedoch solche Anteile „zum Leben“ oder „zu Bewusstsein“ erwecken. Lässt du deinen Vorstellungen und Ideen freien Lauf, werden sich ganz von selbst Bilder in deinem Kopf entwickeln. Dazu kannst du auf verschiedene Methoden zurückgreifen, die besonders gut geeignet sind, um dich mit den unbewussten Anteilen deiner Persönlichkeit in Kontakt zu bringen. Die drei wichtigsten Wege zu deinem „inneren Team“ stellen wir dir hier kurz vor.
1. Vorstellungsübung bei Tiefenentspannung
Der erste Weg zum inneren Team ist, dich in einen Zustand von Tiefenentspannung zu versetzen und den Vorstellungen einfach freien Lauf zu lassen. In diesen Zustand können dich z.B. bestimmte Entspannungstechniken wie das Autogene Training oder die Selbsthypnose bringen.
Wie aber funktioniert Selbsthypnose und wie kannst du in einem solchen Zustand der Tiefenentspannung dein inneres Team festhalten? Das ist tatsächlich gar nicht so einfach, da du während solcher Übungen ja in einem Entspannungszustand bist und nicht einfach mal eben aufstehen und irgendwelche Teammitglieder aufmalen oder aufschreiben kannst. Für diesen Weg der Selbsterfahrung wäre es sogar kontraproduktiv, den Entspannungszustand mehrfach zu unterbrechen.
Unser Tipp: Besorge dir Literatur zum Thema Selbsthypnose, z.B. das Buch „Selbsthypnose: Ein Handbuch zur Selbsttherapie“ von Brian M. Alman und Peter T. Lambrou, oder nutze die von uns entwickelte mindyourlife-Kurzanleitung zur Selbsthypnose. Lass dabei eine Audioaufnahme mitlaufen, zum Beispiel mit deinem Handy, und sprich die Teammitglieder und ggf. der Satz oder die Eigenschaften, die sie charakterisieren, einfach dort auf.
2. Einfach drauflos malen
Spüre in dich hinein und male auf, was dir spontan in den Sinn kommt. Es gibt kein richtig oder falsch. Male alles auf, was dir ganz spontan dazu einfällt. Überlege, welche Dinge du spontan mit einem konkreten Team-Mitglied verbindest – achte dabei auf spontane Assoziationen, auch wenn sie unsinnig oder weit hergeholt erscheinen mögen.
3. Baue dein inneres Team in einem realen Zimmer auf
Bei dieser Übung stellst du dein inneres Team mithilfe von „stellvertretenden“ Objekten in einem Raum auf. Nimm dazu einfach irgendwelche Gegenstände (Stifte, Möbel, Kuscheltiere – deiner Fantasie sind keine Grenzen gesetzt) und ordne sie so im Raum an, wie es dir am passendsten erscheint.
Überlege danach, warum du gerade diesen oder jenen Gegenstand für diesen oder jenen inneren Teil genommen hast. Und überlege, warum du ihn im Raum gerade dort platziert hast: Wie weit ist er von dir weg? Guckt er zu dir oder woanders hin? Welche Beziehung hat er zu den anderen Gegenständen? Welche Gegenstände schauen auf ihn, oder sind ihm räumlich besonders nahe?
Das innere Team macht unbewusste Anteile sichtbar
Nachdem du deinen individuellen Zugang zu deinem inneren Team gefunden hast, ist es ratsam, dein inneres Team festzuhalten. Einen ersten Schritt in dieser Richtung hast du auf jedem der drei Wege zu deinem inneren Team bereits getan. Wenn du einfach drauflos gemalt hast, dann hast du schon eine Skizze. Unter Selbsthypnose hast du eine Audio-Aufnahme oder deine Erinnerung. Und wenn du dein inneres Team in deinem Zimmer aufgebaut hast, dann hast du es ohnehin schon vor dir stehen und kannst es zum Beispiel fotografieren oder abmalen.
Um dein inneres Team nun noch besser zu verstehen, empfiehlt es sich, es nochmal zu skizzieren, jedem Teammitglied einen Namen zu geben und die Beziehungen der Teammitglieder untereinander zu beschreiben. Du kannst dazu unsere Ausfüllvorlage benutzen, die du dir hier herunterladen kannst. In dieser Vorlage werden alle Teammitglieder von dir selbst umrahmt. Die Team-Mitglieder befinden sich in deinem „Bauch“, so wie du es auf der folgenden Grafik sehen kannst.
Skizziere nun in dieser Vorlage die Teammitglieder und benenne sie ganz direkt nach ihrer Aufgabe, z.B. „Wächter“, „Antreiber“ oder „Beschützer“. Als Beispiel: Wenn ich die ganze Zeit das Gefühl habe, dass etwas in mir „aufpasst“, dass ich nichts Falsches oder Unmoralisches tue, so kann man diesen Teil als „Wächter“ oder „Aufpasser“ mit in das „innere Team“ aufnehmen.
Es ist außerdem hilfreich, jedes Teammitglied mit einem Satz oder einigen Charaktereigenschaften zu verbinden, die in aller Kürze zusammenfassen, was dieses Teammitglied ausmacht und welche Rolle es für dich einnimmt. So könnte ein Wächter z.B. sagen: „Lass keinen zu nah an dich ran, sonst werden sie dich verletzen!“. Außerdem kannst du durch Verbindungspfeile oder zusätzliche Notizen die Beziehungen aller Teammitglieder untereinander noch näher erläutern.
Ich bin mehr als mir bewusst ist: Sichtbares und Unsichtbares
Das innere Team als Übung ist eine der einfachsten Selbsterfahrungs-Methoden, die über den bloß bewussten Teil des eigenen Selbst hinaus gehen. Der bewusste Teil ist dir immer zugänglich und sichtbar. Der unbewusste Teil deines Selbst ist für gewöhnlich unsichtbar und muss erst sichtbar gemacht werden. Das innere Team ist dazu bestens geeignet.
Deshalb haben wir von mindyourlife dazu auch eine Komplettanleitung mit Ausfüllvorlagen entwickelt, die dich dabei unterstützt, dein inneres Team zur vertieften Selbsterfahrung zu finden, festzuhalten und zu visualisieren. Die Anleitung enthält im ersten Teil nochmal die wichtigsten Schritte zur Selbsthypnose mit der mindyourlife-Kurzanleitung. Im zweiten Teil findest du dann die Ausfüllvorlage für dein inneres Team. Damit bekommst du einen Überblick über dein Innenleben und kannst auch in Zukunft mit deinen inneren Anteilen arbeiten.
Schreib uns, ob du mit dieser Selbsterfahrungsübung Erfolg hattest oder nicht – wir freuen uns auf dein Feedback!